Ringvorlesung Interdisziplinarität (2017-2018)
Vergangene Termine der Ringvorlesung
19.10.2017
EINFÜHRUNG UND PERSPEKTIVEN
Johannes Lehmann (Bonn) & Kerstin Stüssel (Bonn)
Die erste Ringvorlesung im Rahmen des Graduiertenkollegs „Gegenwart/Literatur – Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses“ verhandelt unter dem Titel „Interdisziplinarität I“ Fragen der ‚Gegenwart‘, die in historischer, soziologischer, zeitphilosophischer und praxeologischer Perspektive verfolgt werden. Was sind die gesellschaftlichen, diskursiven, medien- und öffentlichkeitsgeschichtlichen sowie zeit- und raumtheoretischen Voraussetzungen für historisch unterscheidbare Konzeptualisierung von ‚Gegenwart‘? Wie verfertigen historische und aktuelle, wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Praktiken ‚Gegenwart’ - und ‚ihre’ Literatur? Von der „Geburt der Gegenwart“ im 17. Jahrhundert (Landwehr) und der Kritik an der These einer reflexiven Verzeitlichung der Gegenwart in der sogenannten Sattelzeit (Koselleck) über die Frage nach den Zusammenhängen von Moderne und Gegenwart (Luhmann, Nassehi), Gegenwart, Weltgesellschaft und Globalisierung (Stichweh) sowie Gegenwart und Zeitgenossenschaft (Agamben, Avanessian) bis hin zu den systematischen und methodischen Folgen des praxeological turns für das Verhältnis von ‚Gegenwart‘ und ‚Literatur‘ reicht das Spektrum der hier aufgeworfenen Probleme.
Der Vortrag diskutiert am Beispiel des Wissenschaftssystems als einem der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft die sich verändernden Zeitbeziehungen des Systems. Für Wissenschaft ist zunächst einmal charakteristisch, dass im Unterschied zu anderen Funktionssystemen die Problemlösungen, die das System erarbeitet, nämlich ‚wahrheitsfähige Kommunikationen’, keinen zeitlichen Index tragen. Wahrheitsbehauptungen, sofern sie überhaupt wahr sind, sind immer wahr, also gewissermaßen überzeitlich. Das Wissenschaftssystem kann sich deshalb mit der Gegenwart, in der es jeweils operiert, nicht über die Problemlösungen, die es produziert, verknüpfen. Alternativ kommen für eine solche Verbindung des Systems mit Relevanzen seiner gesellschaftlichen Gegenwart die Problemstellungen der Wissenschaft in Frage. Für die Formulierung wissenschaftlicher Problemstellungen gibt es viele Möglichkeiten. Man kann sie der inneren Logik wissenschaftlicher Entwicklung zurechnen. Sie können zweitens von außerwissenschaftlichen Adressen, die aber aus (politischen, wirtschaftlichen) Gründen für die Wissenschaft wichtig sind, als zu lösende Probleme den Organisationen der Wissenschaft aufgetragen werden. Die Wahl von Problemstellungen kann drittens die Entstehung einer innerwissenschaftlichen Ebene der Reflexion steuern, auf welcher sich die Wissenschaft über das Finden und Aufgreifen von Problemstellungen intentional mit ihrer außerwissenschaftlichen Umwelt verbindet. Der Vortrag wird die Frage zu klären versuchen, ob sich in diesen Hinsichten in der Gesellschaft des 20. und 21. Jhdts. relevante Umbrüche beobachten lassen und er wird dies mit der Frage nach parallelen Um-bauten in den Arbeits- und Institutionalisierungsformen wissenschaftlicher Forschung verbinden. Zugleich schaut er in vergleichender Perspektive auf das Kunstsystem der modernen Gesellschaft, um in diesem Vergleich die Besonderheit des wissenschaftlichen Umgangs mit Gegenwart sichtbar werden zu lassen.
Achim Landwehr (Düsseldorf)
Was war Gegenwart? Spuren einer unsicheren Geschichte Unter einer Geschichte der Gegenwart könnte mancherlei verstanden werden (und das "mancherlei" deutet bereits darauf hin, wie unsicher man sich noch auf diesem Feld zu bewegen pflegt). Man könnte darunter eine Begriffsgeschichte verstehen, die den inhaltlichen Verästelungen des Begriffs "Gegenwart" nachgeht. Aber eine solche Begriffsgeschichte existiert bisher nur in Spurenelementen. Man könnte darunter die historische Aufarbeitung desjenigen Zeitraums verstehen, der sich als Gegenwart begreift, also eine Geschichte der jeweils Mitlebenden, wie sie im Deutschen unter der Bezeichnung "Zeitgeschichte" firmiert (ansonsten als "contemporary history" oder "histoire contemporaine" bekannt ist). Aber dann müsste erst einmal klar sein, was für ein Zeitraum diese Gegenwart sein soll. Oder man könnte darunter eine Geschichte der sich jeweils verändernden Konzepte und Auffassungen von Gegenwart verstehen. Aber dann müsste kenntlich gemacht werden, wie man theoretisch und methodisch einer solchen Geschichte beikommen möchte.
Anstatt eine bereits vorfabrizierte Geschichte der Gegenwart in der einen oder anderen Art zu präsentieren, möchte ich in dem Vortrag anhand der genannten Aspekte auf einige Problemfelder eingehen, denen man begegnet, sobald man sich dem Thema "Gegenwart" zuwendet. Ich werde also versuchen, einige Voraussetzungen auszuloten, die sich mit einer historischen Perspektive auf die Gegenwart verbinden (und eine solche Perspektive lässt sich bei der Gegenwart gar nicht vermeiden) - und damit hoffentlich auch zeigen, warum die Frage nach der Gegenwart ungemein ertragreich sein kann.
In dem Essay „Erfahrung und Armut“ aus dem Jahre 1933 bekundet Walter Benjamin seine Absicht, „einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen“. Kennzeichnend für diesen neuen Barbaren sei dessen „rückhaltloses Bekenntnis“ zu seinem eigenen Zeitalter; der Barbar sei ohne Umschweife dazu bereit, einen großen Schatz an Erfahrungen gegen „die kleine Münze des ‚Aktuellen’“ einzutauschen. Benjamin charakterisiert den Barbaren mithin als eine emphatische Figur der Gegenwart. Diese Konzeption des Barbarischen ist freilich weniger neu, als Benjamin glauben machen will. Seine Symbolgestalt des Barbaren ist der späte Erbe einer grundlegenden semantischen Verschiebung, die bereits für das 18. Jahrhundert anzusetzen ist. Im Jahrhundert der Aufklärung wandelt sich der Barbarenbegriff von einem Raum- zu einem Zeitkonzept. Der Barbar repräsentiert nicht mehr das (räumlich ferne, ausgeschlossene) Andere der europäischen Kultur, sondern die Vergangenheit des Eigenen – ein Vergangenes jedoch, das als dynamisches Prinzip in der Gegenwart fortwirkt und die stets vorhandene Möglichkeit dramatischer Umbrüche und Revolutionen verheißt. In meinem Vortrag möchte ich diese semantische Verschiebung rekonstruieren. Im Fokus stehen geschichtsphilosophische, anthropologische und literarische Texte, die den Barbaren als Repräsentanten einer komplexen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verklammernden Zeitkonstellation zu modellieren suchen.
Der Vortrag führt ein in die Konfliktgeschichte reflexiver Verzeitlichungsprozesse in der Moderne. Charakteristisch für das, was wir ‚modern‘ oder die ‚Moderne‘ nennen, scheint die Notwendigkeit der reflexiven Bezugnahme auf die eigene transitorische Gegenwart. Kann die geschichtliche Gegenwart begriffen und kann sie handelnd gestaltet werden? Der Vortrag setzt an der Entwicklung der geschichtsphilosophischen Entwürfe von Kant bis Hegel an und verdeutlicht Strategien der Bewältigung der temporalisierten Gegenwart wie deren Probleme und Aporien.
Gegenwart und Geschichte stehen in vielfachen Wechselbeziehungen. Von der Gegenwart aus wird die Geschichte beobachtet: Muss sich der Beobachter auslöschen, um der Geschichte gerecht zu werden, oder trägt er offensiv die Probleme der Gegenwart an seinen Gegenstand heran? Umgekehrt ragt die Geschichte durch das Weiterwirken von Traditionen immer in die Gegenwart hinein. Aus der Vergangenheit werden Imperative zur Gestaltung der Zukunft abgeleitet, was die Gegenwart zur Brücke zwischen diesen beiden Zeitdimensionen macht. Welches Gewicht dürfen Geschichte und Zukunft aber gegenüber der Gegenwart beanspruchen - wie weit darf Erinnerung das aktuelle Leben überwuchern, wie stark darf Vorsorge um der Zukunft willen der Gegenwart Ressourcen entziehen? Wie grenzt sich die Gegenwart zeitlich von Vergangenheit und Zukunft ab, wo ist also ihr Anfang und ihr Ende? Wie rekonstruiert man das Gegenwartsbewusstsein vergangener Gesellschaften?
Zu diesen Problemen und Fragen will der Vortrag Überlegungen aus geschichtswissenschaftlicher Warte präsentieren, die mit Beispielanalysen verknüpft werden.
Ausgangspunkt des Vortrags ist eine medienhistorische Situierung der Zeitung wie der periodischen Presse insgesamt seit ihrem take off im 17. Jahrhundert. Um die konstitutive Rolle des neuen Mediums Zeitung für die Herausbildung von Gegenwartsbewusstsein zu verdeutlichen, werde ich sodann zum einen die für die Zeitung entscheidende Koppelung von Aktualität und Periodizität genauer ins Auge zu fassen, zum anderen die raumzeitlichen Dimensionen im Begriff der Gegenwart. Ein dritter Abschnitt erörtert die Existenz des Mediums Zeitung als nicht abwählbare Hintergrundvoraussetzung der Literatur in der Moderne. Dem schließt sich ein Fazit zu der Frage an, welche Konsequenzen die aktuelle Transformierung der Zeitung in ein digital-analoges Mischwesen und genuin digitales Medium für die Literatur und Literaturkritik hat.
Wenn in Literaturwissenschaft und -theorie Arbeits- und Produktionsprozesse Beachtung finden, liegt das Interesse in der Regel auf dem Sprachlich-Schriftlichen. Wo keine Texte entstehen, scheint die Grenze zur bildenden Kunst überschritten, die Literaturwissenschaft somit nicht mehr zuständig zu sein; sie widmet sich bestenfalls Schreibprozessen. Dabei gibt es nicht wenige Schreibende, für deren Unternehmen nicht- verbale und nicht-skripturale Momente von eminenter praktischer und produktionsästhetischer Bedeutung sind und die dies - z.T. unabhängig von entsprechenden Theoriebildungen, z.T. parallel dazu - reflektieren. Henri Michaux (1899-1984) ist einer ihrer konsequentesten und produktivsten Vertreter. In vielen seiner Arbeiten stehen Poetisches, Essayistisches und Malerisch-Graphisches in Wechselbeziehung. Begleitet von poietologischen sowie wahrnehmungs- und zeichentheoretischen Überlegungen wird der Bereich zwischen Schreiben und Malen/Zeichnen auf immer wieder neue Weise ausgelotet. Publikationen wie Mouvements (1951), Paix dans les brisements (1959), Par la voie des rythmes (1974), Saisir (1979) oder Par des traits (1984) arbeiten in diesem Sinn daran, unser Verhältnis zu Schrift, Buch und Leseliteratur zu verändern. Der Vortrag wird sich v.a. mit den Fragen befassen, wie Schreiben als Körpertechnik und Gestik in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät, wie es alteriert wird, wie es in Beziehung zu performativen Künsten tritt, z.B. zum zeitgenössischen Tanz, und was sich daraus für das Medium Buch ergibt.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht ein neues, naturwissenschaftlich-experimentell gewonnenes Wissen von ‚Gegenwart’. Eingebunden in eine beschleunigte Zirkulation, mit der Untersuchungen und Ergebnisse quer über verschiedene wissenschaftliche Disziplinen hinweg rezipiert werden, erscheint ‚Gegenwart’ nun als komplexes Gebilde, das sich dem Zusammenspiel physikalischer, physiologischer und psychologischer Prozesse verdankt. Diese neuen Einblicke und ihre experimentellen Anordnungen prägen nachfolgende Forschungen ebenso wie technologische Entwicklungen oder ästhetische Verfahrensweisen. Der Vortrag möchte einen speziellen Pfad dieser Wirkungszusammenhänge rekonstruieren. Er möchte darlegen, welche Elemente der digitalen Kultur sich diesen Wissensbeständen verdanken, welche Spielarten von ‚Gegenwart’ daraus erwachsen und insbesondere welche narrativen Strukturen und Erzählverfahren sich unter diesen Bedingungen an den Übergängen von Realität und Virtualität herausbilden.
Kennen wir den Begriff der ‚Gegenwart’ in seiner heute gebräuchlichen Bedeutung als Zeitbegriff auch erst seit dem 18. Jahrhundert, ist ein Blick auf die Beziehung von ‚Literatur’ und ‚Gegenwart’ avant la lettre gleichwohl vielversprechend. Als Mediävistin wende ich mich in meinem Vortrag einem spezifischen Bereich der Gelegenheitsdichtung zu, der politischen Publizistik, die ich im deutschen Sprachraum seit der Mitte des 14. Jahrhunderts festmachen kann. Für diese auf konkrete Ereignisse reagierenden, gleichwohl poetisch gestalteten Texte ist Aktualität die entscheidende Kategorie. Deswegen habe ich meinen Vortrag unter die Leitfrage gestellt: Wie lösen diese Gelegenheitsdichtungen zeitgeschichtlicher Thematik ihren Aktualitätsanspruch ein? Unter Rückgriff auf Material des 14. bis 16. Jahrhunderts soll die Frage auf literarästhetischer Ebene – wie wird Aktualität literarisch hergestellt? – und auf medienhistorischer Ebene – was wissen wir über Performanz, Tradierung und Überlieferung? – beantwortet werden.
Der Vortrag beschäftigt sich mit der Frage, wie Literatur mit Zensur und zensurierenden wie zensierenden Instanzen (Staat, Schule) umgeht. Die von Michel Foucault im Rahmen seiner Theorie diskursiver Regulierungen entwickelte These, dass es sich bei der Zensur weniger um ein massives Repressionsinstrument als um einen Mechanismus handelt, der auf prekären Kollaborationsbeziehungen beruht, wird am Beispiel literarischer Texte Robert Walsers erörtert, die Rituale der erzwungenen Selbstverleugnung ebenso wie Praktiken der textuellen Korrektur, Revision und ‚Selbstzensur‘ vorführen. Im Zentrum des Vortrags stehen Walsers Dramolett Schneewittchen (1901) sowie Fritz Kochers Aufsätze (1904).
Der Vortrag untersucht das Format und die literaturbetrieblichen Funktionen der Poetikvorlesung. Dabei beschreibt er diese als eine bestimmte mediale Anordnung mit unterschiedlichen Akteuren, die an dem Beziehungsverhältnis Gegenwart/Literatur mitwirken. Von besonderer Bedeutung für die Überlegungen ist der Umstand, dass Poetikvorlesungen im akademischen Milieu stattfinden, präziser: in einem Hörsaal abgehalten werden, weshalb sie immer auch als Fortschreibung oder Umschrift der akademischen lectio bzw. praelectio lesbar sind. Sie lassen sich daher nicht als Erscheinungsformen eines ‚einfaches Sozialsystems’ unter Anwesenden auffassen, sondern konstituieren vielmehr eine Schrift mit unmittelbarer Interaktion verbindende Komplexität eigener Art. Anhand der Poetikvorlesungen von Andreas Meier, Thomas Meinecke sowie Marcel Beyer rekonstruiert der Vortrag, wie die Vorlesenden selbst diesen Zusammenhang problematisieren, verstehen und dazu nutzen, um eine Gegenwart der poetologischen Reflexion zu erzeugen.
ZEITGENOSSENSCHAFT IN DER KUNST. VOM AUFLÖSEN DER GEGENWART
Anne-Marie Bonnet (Bonn)
Die Gegenwart der Gegenwartskunst hat zur Zeit Konjunktur, dennoch bleibt sie obwohl diskursiv hoch im Kurs letztlich unbestimmt. Nach einer historischen Einführung der Rolle der Gegenwart für die Bestimmung der Moderne und in die Dialektik Gegenwart vs. Moderne wird ein Streifzug durch das aktuelle diskursive Feld zur Bestimmung von Zeitgenossenschaft in den bildenden Künsten versucht. Anhand exemplarischer Beispiele soll die Spezifik der Problematik skizziert werden.
19.07.2018
GEGENWART ALS ABWESENHEIT IM FILM
Michael Wetzel (Bonn)